Geschichte zwichen 1901-1910




Die 1900er Jahre: Eine Gesellschaft droht zu zerspringen

Die Menschen waren begeistert. Zu Beginn des neuen Jahrhunderts, des zwanzigsten, wähnten sie sich als Krone der Schöpfung. Als die Beherrscher der Welt, denen kein Problem zu klein ist. Kein Wunder! Große Erfindungen fallen genau in diese Zeit. Es verging kaum ein Monat während dieses ersten Jahrzehnts des neuen Jahrhunderts, in dem nicht Bahn brechende, noch heute wichtige Erfindungen und Entdeckungen gemacht wurden: der Rundfunk, der Tonfilm, der erste Kunststoff Bakelit. Langsam zog Elektrizität in die Häuser (zumindest der Städte). Staubsauger und elektrisches Rührgerät machten das Leben leichter. Die letzten weißen Flecken der Landkarte verschwanden: 1909 stand der erste Mensch auf dem Nordpol, der Südpol sollte zwei Jahre später folgen.

Kaiser Wilhelm

Wissenschaftler der 00er Jahre richteten ihre Blicke auch nach innen: Sie entdeckten die Genetik, erkannten die Wichtigkeit von Hormonen und Vitaminen. Es schien keine Grenzen mehr zu geben - weder der Erkenntnis (Albert Einstein formulierte die allgemeine Relativitätstheorie, Max Planck das Strahlungsgesetz, Rutherford entdeckte die Alpha-, Beta- und Gammastrahlen) noch der Naturgesetze: Mit dem ersten Motorflug (Gebrüder Wright, 1903) besiegte der Mensch die Schwerkraft. Er verließ den Erdboden - und richtete fortan seinen Blick gen Himmel.

Und doch verharrte die Gesellschaft des beginnenden 20. Jahrhundert während dieses Jahrzehnts innerlich noch im 19. Jahrhundert, denn das System änderte sich kaum: Der Kaiser regierte in Berlin, Adel und die neu aufgestiegenen Großindustrieellen stellten die herrschende Klasse, beschäftigten Heerscharen von Dienstboten und lebten in prächtigen Schlössern und Villen. Frauen hatten kein Wahlrecht. Kein Wunder, dass sich auch ihre Mode kaum änderte: Die langen Kleider der "Belle Epoque" verlangten ein unbequemes Korsett und Hüft- bzw. Po-Polster. "Belle Epoque" heißt auf deutsch "Schöne Epoche", und eine solche waren diese Jahre zweifellos - für einige: Die eben erst entstehende Mittelschicht, das gehobene Bürgertum, profitierte am meisten vom Fortschritt. Sie lebte komfortabel in Städten, erging sich auf Boulevards, in Galerien und im Kabarett. Materielle Sorgen gab es für sie nicht. Die hygienischen Verhältnisse besserten sich. Die Säuglingssterblichkeit nahm ab, die Lebenserwartung zu.

Eine "Belle Epoque" nur für die Reichen

Allerdings: Landarbeiter und Bauern und vor allem die Arbeiter in den immer größer werdenden Industrievierteln hatten von der "Schönen Epoche" nichts. Sie arbeiteten unter teilweise unmenschlichen Bedingungen, lebten ärmlich in den dunklen Hinterhöfen der schnell wachsenden Städte. Uns heute ist klar: So konnte es nicht weitergehen. Die bildende Kunst ahnte voraus, dass das gesellschaftliche System an allen Ecken und Enden knirschte, dass die Gesellschaft vor dem Zerreißen stand: Der Kubismus - allen voran Pablo Picasso 1907 mit den "Demoiselles d´Avignon" - ging den ersten Schritt hin zur abstrakten Malerei. Die Linien zersprangen, die Strukturen zerplatzten, Gesichter brachen auseinander. Bald sollte sich das ganze Land so fühlen.

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